Handelsblatt:
Wie Top-Aufsichtsräte Deutschland voranbringen wollen

25 der einflussreichsten deutschen Kontrolleure schlagen Alarm. Sie fordern jetzt mehr Mut und Strategien – und zwar auch aus den Aufsichtsräten heraus. Das sind ihre zehn Punkte.

25 einflussreiche Aufsichtsräte appellieren in einem gemeinsamen Aufruf an ihre eigene Zunft, sich aktiver in die beaufsichtigten Unternehmen einzubringen. Statt Kontrollinstanz zu sein, sollten Aufsichtsräte „treibende Kraft des Wandels“ in Deutschland werden. Die Verfasser des Aufrufs sehen die Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen an einem kritischen Wendepunkt. Aufsichtsräte müssten daher gerade jetzt ihre Verantwortung neu definieren.

In ihrem Appell wenden sich die Aufsichtsräte gegen „das historische Verständnis, dass Aufsichtsräte vor allem rückwärtsgewandt kontrollieren“, sagt Multiaufsichtsrätin und Investorin Doreen Nowotne.

Um am gegenwärtigen und künftigen „Erfolg und Risiko“ des Unternehmens beteiligt zu sein, plädieren Nowotne und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter deshalb etwa dafür, dass Aufsichtsräte auch Aktien des zu überwachenden Unternehmens halten. Deutsche Aufsichtsräte sollten sich zudem nicht scheuen, ihre Vorstände konsequent nach Leistung zu honorieren und diese auch einmal mit weniger als 100 Prozent Zielerreichung zu bewerten.

Zu den beteiligten Aufsichtsräten gehören unter anderem Ex-BDI-Boss und Rheinmetall-Aufsichtsratschef Ulrich Grillo, die Multiaufsichtsrätinnen Clara Streit (Deutsche Börse, Vonovia) und Doreen Nowotne (Ex-Brenntag, Renk), Ex-McKinsey-Deutschlandchef Cornelius Baur, Familienunternehmerin Isabel Knauf und Tech-Unternehmer Lars Hinrichs. Die 25 hatten sich schon 2021 zum „Applied Governance Circle“ zusammengefunden.

Applied Governance Circle

Der Zirkel

Sie sprachen und trafen sich bisher vor allem im vertrauten Rahmen. Nun melden sie sich mit einem Appell in eigener und grundsätzlicher Sache an die Öffentlichkeit: 25 in Deutschland einflussreiche Aufsichtsräte, die sich bereits im Jahr 2021 zum „Applied Governance Circle“ zusammengefunden haben.

Die Mitglieder

Dominik Asam, Cornelius Baur, Michael Bolle, Johannes Conradi, Thomas Dannenfeldt, Ulrich Grillo, Lars Hinrichs, Isabel Knauf, Olaf Koch, Anastassia Lauterbach, Martina Merz, Michael Moser, Rolf Nonnenmacher, Doreen Nowotne, Viktoria Ossadnik, Ariane Reinhart, Andreas Schmitz, Martin Sonnenschein, Clara Streit, Johannes Teyssen, Jens Tischendorf, Thomas Tomkos, Christian Ulbrich, Thomas Vollmoeller, Gunnar Wiedenfels.

Die Forderung des Zirkels nach mehr Einfluss stößt bei Corporate-Governance-Experte Michael Wolff, Professor an der Universität Göttingen, auf Zuspruch. Allerdings sei es grundsätzlich schade, dass ein solcher Aufruf notwendig sei: „Eigentlich sollte es für Aufsichtsräte eine Selbstverständlichkeit sein, notwendige grundlegende Veränderungen wie bei Geschäftsmodellen mit den Vorständen aktiv zu diskutieren und nicht passiv abzuwarten.“

„Doch leider“, sagt Wolff, „haben manche Aufsichtsratsgremien immer noch Nachholbedarf. Diese Gremien übernehmen immer noch nicht genug Verantwortung.“ Neben den formalen, klassischen Kontrollaufgaben müssten Aufsichtsräte stärker unternehmerisch – im Sinne aller Stakeholder – denken und sich entsprechend einbringen. In diesem Sinn sei das Papier zu begrüßen, sagt Wolff, „gerade auch für das deutsche zweistufige System von Vorstand und Aufsichtsrat“.

„Die Situation ist so kritisch wie noch nie“

Während zum Beispiel in den USA der „Board of Directors“ von Unternehmen gleichzeitig die Leitung und die Kontrolle ausübt, sind diese beiden Funktionen nach deutschem Aktienrecht geteilt. Der Vorstand führt die Geschäfte, der Aufsichtsrat kontrolliert dies und berät den Vorstand grundlegend. An dieser Trennung will auch der Applied Governance Circle nicht rütteln.

Allerdings, so fordert der Zirkel, sollten sich Aufsichtsräte in diesen derzeit schwierigen wirtschaftlichen Zeiten aktiver und zukunftsgerichteter einbringen. „Die Situation ist so kritisch wie noch nie“, sagt Mitinitiator Michel Bolle im Gespräch mit dem Handelsblatt. Für den Vorsitzenden des Rats der Zeiss-Stiftung ist klar: „Wir müssen uns alle im Handeln ändern!“

Isabel Knauf, Mitglied des Gesellschafterausschusses der Gipsdynastie und Aufsichtsrätin bei Continental, erklärt: „Wir müssen uns aus dieser deutschen Malaise des Abwartens und Zurückschauens befreien.“

Die im Zirkel verbundenen Aufsichtsräte bilden die gesamte Bandbreite der deutschen Wirtschaft ab. Sie stehen an der Spitze von Familienunternehmen, börsennotierten Konzernen und aktivistischen Investoren. Zusammengebracht haben sie einst die Diesel-Affäre bei VW und der Wirecard-Skandal – und damit Ereignisse, die auch die Aufsichtsräte in Deutschland massiv in die Kritik brachten.

Jens Tischendorf, einst für den Finanzinvestor Cevian in den Aufsichtsräten von Thyssen-Krupp und Bilfinger und nun Gründungspartner von Active Value Partners, berichtet: „Für den deutschen Kapitalmarkt gibt es international einen Abschlag.“ Deutsche Unternehmen müssten unter anderem mit substanzieller Veränderungsbereitschaft Vertrauen zurückgewinnen.

Dabei gehe es ihnen als aktiven Aufsichtsräten nicht darum, so schreiben Tischendorf und seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen in ihrem Plädoyer, die Aufgaben des Vorstands zu übernehmen, sondern ihn „als aktiver Sparringspartner – mit Weitblick und Unabhängigkeit – herauszufordern und zu unterstützen“.

Das sind die zehn konkreten Forderungen des Zirkels an die deutschen Aufsichtsräte:

1. Aktive Haltung

Ihrer Auffassung zufolge ist es die Aufgabe des Aufsichtsrats, kommende Herausforderungen und Chancen zu antizipieren und den Vorstand aktiv zu inspirieren, zu ermutigen und zu unterstützen – sei es bei der Eruierung alternativer Geschäftsmodelle oder bei der Investition in innovative Technologien. Ein verantwortungsvoller Aufsichtsrat denke unternehmerisch, handele mit Weitblick und definiere beziehungsweise treibe dementsprechend die Agenda der Sitzungen.

2. Kapitalmarkt beachten

Aufsichtsräte sollten den Kapitalmarkt stets im Blick behalten: Investoren erwarteten klare, langfristige Strategien mit messbaren Fortschritten. Der Kapitalmarkt müsse gehört, seine Wünsche müssten allerdings nicht immer befolgt werden. Ein regelmäßiger, proaktiver Dialog zwischen Aufsichtsrat und Investoren stärke das Vertrauen, erhöhe die Transparenz und mache dadurch auch den Standort Deutschland attraktiver für Kapital.

3. Unternehmerische Beteiligung

Wer mitentscheide, sollte auch an Erfolg und Risiko beteiligt sein. Dennoch verpflichte sich bislang nur ein Bruchteil der deutschen Aufsichtsräte dazu, eigene Unternehmensaktien zu halten, kritisieren die 25 Autoren und Autorinnen.

Weniger als zehn Prozent der Dax-40- und MDax-Unternehmen hätten eine entsprechende Selbstverpflichtung für die Vertreter der Anteilseigner eingeführt – und die Zahl stagniere. Dazu zählten etwa BASFBayerBrenntagFuchs PetrolubRheinmetall und RWE.

4. Leistungskultur prägen

Aufsichtsräte sollten sich, so der Applied Governance Circle, als Treiber einer Performance-Kultur verstehen. Als oberstes Kontrollorgan trage der Aufsichtsrat die Verantwortung für eine leistungsorientierte Unternehmenskultur. Dies bedeute: klare, ambitionierte Ziele, eine konsequente Nachverfolgung der Umsetzung und eine unmissverständliche Erwartungshaltung gegenüber dem Vorstand. Leistungsschwächen dürften nicht toleriert, sondern müssten transparent und entschieden adressiert werden.

5. Vergütung nach Leistung

Der Aufsichtsrat setze das Ambitionsniveau – unter anderem mit der Festlegung der erfolgsabhängigen variablen Vergütung des Vorstands. Ein leistungsorientierter Aufsichtsrat fordere und fördere Höchstleistungen, orientiere sich am internationalen Wettbewerb und setze klare Maßstäbe für nachhaltige Wertsteigerung. Dies zeige sich sowohl in der Definition der relevanten Vergleichsgruppe als Orientierungspunkt wie auch in der Ausgestaltung der Zielerreichungskurve der variablen Vergütung.

Zudem scheuten sich viele Gremien, individuelle Vorstandsleistungen auch einmal mit weniger als 100 Prozent Zielerreichung zu bewerten – eine verpasste Chance, echte Spitzenleistungen zu incentivieren. Ein konsequentes Pay-for-Performance-Prinzip stelle sicher, dass erfolgsabhängige Vergütung nicht für Durchschnitt, sondern für Exzellenz gezahlt werde.

6. Vorausschauende Nachfolgeplanung

Ein Unternehmen, das nachhaltig erfolgreich und wettbewerbsfähig sein wolle, benötige einen Vorstand, der diesen Anspruch lebe. Es sei Aufgabe des Aufsichtsrats, dieses Team zu formen – auch durch gezielte Förderung interner Talente und eine langfristige Nachfolgeplanung.

7. Kompetenz sichern und weiterentwickeln

Ein effektiver Aufsichtsrat stelle höchste Ansprüche auch an sich selbst. Er überprüfe kontinuierlich selbstkritisch seine eigene Zusammensetzung und stelle sicher, dass seine Kompetenzen den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen des Unternehmens gerecht würden.

Die Mitglieder des Aufsichtsrats müssen dem Management auf Augenhöhe begegnen können – idealerweise mit einem Erfahrungs- und Wissensvorsprung in strategisch relevanten Zukunftsthemen. Es liege in der Verantwortung des Aufsichtsrats, die erforderliche Kompetenz im Gremium sicherzustellen. Dazu gehöre auch, Investorenperspektiven in die Definition des Kompetenzprofils einzubeziehen, beispielsweise durch den Nominierungsausschussvorsitz.

8. Internationalisierung

Für viele Unternehmen sei, so die 25 Autoren und Autorinnen, internationale Expertise essenziell, sie könne jedoch in mitbestimmten Aufsichtsräten aufgrund von Sprachbarrieren zur Herausforderung werden. Hier gelte es, praktikable Lösungen zu finden, um relevante internationale Erfahrung und eine globale Perspektive im Gremium zu gewährleisten.

9. Kontinuierliche Anpassung des Gremiums

Aktionären sollte regelmäßig die Möglichkeit gegeben werden, über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats abzustimmen – etwa durch kürzere Amtszeiten, wie in der Schweiz oder Großbritannien, oder durch die Einführung sogenannter Staggered Boards. Dies ermögliche eine kontinuierliche Anpassung des Gremiums an die aktuellen Unternehmensanforderungen.

10. Wahrung der Unabhängigkeit

Ein unabhängiger Aufsichtsrat lasse sich nicht von kurzfristigem Druck leiten, sondern bewahre seine Objektivität und treffe Entscheidungen, die auf langfristiger unternehmerischer Verantwortung beruhten. Gleichzeitig sei Kontinuität unverzichtbar, denn neben der erforderlichen Expertise seien eine tiefe Kenntnis des Unternehmens und eine gelebte Vertrauenskultur im Gremium essenziell, damit der Aufsichtsrat als starkes Team seine volle Wirkung entfalten könne.

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